Sunday, June 26, 2011

Ist Europa Schnee von gestern?

Die Türken haben Erdogan am 12. Juni 2011 mit einer komfortablen Mehrheit wiedergewählt. Gleichzeitig hat sich jedoch die wichtigste Oppositionspartei CHP gefangen und dazugewonnen, mit dem Resultat, dass Erdogans AKP die Zweidrittelmehrheit verpasst hat. Damit kann er nur im Dialog mit der Opposition sein nächstes wichtiges Ziel erreichen, eine neue Verfassung für die Türkei zu schreiben. Der Wahlausgang war für die meisten Beobachter nicht überraschend. Auch hat Erdogan schon vorher klar gesagt, was er im Fall des erwarteten Wahlsieges machen würde:eine grundsätzliche Verfassungsreform durchführen, die Nachbarschaftspolitik ausbauen, die wirtschaftliche Expansion forcieren, unterstützt durch den Ausbau der Sozialstruktur. Dies hat Erdogan in seiner vielbeachteten Balkonrede am Abend des Wahlsieges im AKP-Hauptquartier in seiner ihm eigenen, selbstbewussten Art vorgetragen.

Also, nichts Neues in der Türkei?

Die Antwort auf diese Frage hängt vom Betrachtungszeitraum ab. Nimmt man die letzten zwei Jahre, folgen die jetzigen Prioritäten der Türkei einer konsequenten roten Linie. Erweitert man den Betrachtungszeitraum, zum Beispiel auf zehn Jahre, gibt es zumindest in einem wichtigen Punkt viel Neues, nämlich im Verhältnis der Türkei zu Europa.

In der Balkonrede nach seinem ersten Wahlsieg 2002 war die Orientierung an Europa und das klare Ziel der EU-Mitgliedschaft das zentrale Thema. Um dies zu unterstreichen, besuchte Erdogan gleich nach der Wahl alle großen EU-Hauptstädte. In seiner Siegesrede im Jahr 2006 spielte Europa noch eine gewisse, wenn auch schon stark abgeschwächte Rolle. In seiner Balkonrede am 12. Juni 2011 kam die Europäische Union schließlich überhaupt nicht mehr vor.

Die Abstinenz Europas in Erdogans Balkonrede ist das wirklich Neue in der Türkei. Manche in Europa wird das freuen. Ich bin jedoch der Meinung, dass uns das sehr zu denken geben sollte - nicht nur wegen des bilateralen Verhältnisses zwischen der EU und der Türkei, sondern auch wegen der heutigen Stellung und Attraktivität Europas an sich.

Um diese neue Europa-Abstinenz in der Türkei zu verstehen, lohnt es sich, die Situation vor zehn Jahren mit der heutigen zu vergleichen.

Vor zehn Jahren war die EU selbstbewusst, optimistisch und auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung. Die Osterweiterung war in vollem Gange, der Euro wurde eingeführt, die EU gab sich die Lisbon Agenda, um damit die innovativste Wirtschaftkraft der Welt zu werden. Und ein Verfassungskonvent entwarf die erste europäische Verfassung nach amerikanischem Vorbild. Globale Politik funktionierte nicht ohne Absprachen mit Europa, es gab Leute, die ernsthaft meinten, Europa würde die Führungsmacht des 21. Jahrhunderts werden. Zeitgleich kämpfte die Türkei mit einer schweren Finanzkrise und hing am Tropf des Internationalen Währungsfonds, der dem Land ein straffes Reformprogramm diktierte. Ein großer Teil der Türkei war bettelarm, und Arbeitsmigration nach Europa war für viele Türken die einzige reale Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen mittelfristig zu verbessern. Einen möglichen EU-Beitritt unterstützten 70 Prozent der türkischen Bevölkerung und verband damit vor allem wirtschaftlichen Wohlstand und politische Stabilität.

Zehn Jahre später scheint die Situation nun spiegelverkehrt.

Die EU ist inmitten einer Finanz-und Identitätskrise. Der EU-Verfassungsentwurf wurde in französischen und niederländischen Referenden abgeschossen. Übrig blieb der technokratische Lissabon-Vertrag, der aber die wichtige Frage der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regierungsführung ausließ. Dafür wurden zwei neue EU-Chefposten geschaffen und mit Leuten besetzt, die auch heute noch kaum jemand kennt. Außenpolitisch hat die EU viele Chancen vertan, wie sich beim Klimagipfel in Kopenhagen und kürzlich beim Arabischen Frühling zeigte. Die Finanzkrise 2008 traf die EU härter als anfangs gedacht und legte die systemischen Schwächen des Euro offen. Seit 2009 ist die EU in einem permanenten Krisenmanagement gefangen und gezwungen, ihre Finanz-und Eurokrise mit co-finanzierten IWF-Krediten und Auflagen zu bekämpfen. An Lissabon-Agenda und Vertrag möchte keiner mehr gerne erinnert werden. Und Lissabon selbst hat sowieso gerade andere Probleme.
Weiter südlich hatte die Türkei demgegenüber eine außerordentlich gute Dekade. Die Wirtschaftleistung vervierfachte sich und die Türkei erfreut sich stabiler politischer Rahmenbedingungen. Sie hat sich zu einem respektierten außenpolitischen Akteur entwickelt, unterstützt von einer eigenen, blühenden Softpower bei den Nachbarn. Bis tief in das anatolische Hinterland sprüht die Türkei vor Selbstbewusstsein und Optimismus. Und nur knapp die Hälfte der Bevölkerung könnte sich jetzt noch einen Beitritt zur EU vorstellen.

Im Zehnjahresrückblick ist die Europa-Abstinenz in Erdogans Balkonrede also leicht nachzuvollziehen.

Aber es muss nicht bei diesem Trend bleiben. Europa wird sich letztendlich aus der Euro-Krise befreien, seine Strukturen und Personalien neu ordnen. Europa kann und wird die Energie-Revolution nutzen, um seine Führungsrolle bei innovativen, wissenschaftsintensiven Industrien auszubauen. Europas Softpower bleibt stark als Raum der Demokratie, der Menschenrechte, der starken sozialen Netzwerke und der kreativen Entfaltung.
Die Türkei wird sich weiter dynamisch entwickeln, wobei eine Überhitzung mit möglichen wirtschaftlichen Rückschlägen nicht ausgeschlossen ist. Ob die Türkei ihre wichtige politische Stabilität und ihre Reformdynamik behält, wird auch davon abhängen, ob Erdogan seine autoritären Tendenzen zügeln kann.

Eine weiter stabile und prosperierende Türkei und eine sich erholende EU sollten die Basis für eine erneute Annäherung sein - Heirat nicht ausgeschlossen.

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Eine gekürzte Version ist am 22. Juni 2011 in The European unter dem Titel 'Die deutsch-türkische Freundschaft - Heirat nicht ausgeschlossen' erschienen.